Es geschah auf meiner Indien- Reise im Oktober/ November 2015.
Ich hatte noch ein paar Tage länger gebucht über die Zeit unserer Gruppenreise hinaus. Unsere Gruppenleiterin fragte mich, ob ich sie begleiten wolle, zwei bekannte Orte südlich von Jaipur zu besuchen. Oh, ja, das wollte ich gerne. Sie ist auch sehr verbunden mit Kuthumi und so würde ich unter meinesgleichen sein in der fremden Umgebung.
Sameer, unser Touristenführer nahm uns in seinem Auto mit und so fuhren wir von Jaipur nach Ajmer und Pushkar durch die wunderschöne Landschaft Rajasthans.
In Ajmer angekommen stellten wir das Auto in einer Garage ab und liessen uns in einem TucTuc zu der dortigen Moschee bringen.
Es ist ein bekannter Pilgerort, der tagtäglich viele Menschen anzieht.
Auf dem großen Platz vor der Moschee befanden sich Unmengen von Menschen, die einzeln, in kleinen Grüppchen oder im großen Familienverband dort herumspazierten oder auch zusammen saßen. Es gab einige Ziegen und Hunde, die durch die Menge streunten und nach Futter suchten.
Wir westlich aussehenden Frauen waren für die Inder dort eine wahre Touristen- Attraktion. Sie scharten sich um uns, ließen sich mit uns zusammen fotografieren oder baten um Einzelphotos von uns. Das war sehr lustig!
In der Moschee, die nach aussen hin offen war und nur von hohen Säulen umgeben, saßen und lagen viele, essend, entspannt vor sich hinsinnend oder auch in Andacht versunken.
Nein, es war nicht still, es war ganz schön was los!
Immer wieder bewunderte ich die Schönheit der Inderinnen in ihren bunten Saris, das wunderschöne Braun ihrer Hautfarbe, fast immer geschmückt mit Ohrringen, Ketten, Armreifen.
Selbst wenn – bei näherem Hinsehen – ihre Saris verschmutzt waren, so strahlten sie Schönheit aus, Schlichtheit, eine Gefasstheit…
ich konnte nicht genug bekommen, sie zu beobachten!
Nachdem wir uns dort eine ganze Weile aufgehalten hatten, schlug Sameer vor, zu Fuß die unbefahrene Straße durch die Stadt zu unserem Parkplatz zu laufen. Das würde eine interessante Erfahrung sein für uns, diese lange Geschäftsstraße zu erleben.
Wir stimmten zu und gingen zu der Treppe, die hinunter führte auf die Straße mit den Geschäften.
Noch im Bereich der Moschee fiel mein Blick auf zwei Personen, die da auf einer kleinen Böschung unter einem Sonnenschirm saßen. Der eine redete geschäftlich auf den anderen ein und dieser hatte – flache Beine, flachgedrückt wie Teller von oben bis unten. Ich war erstaunt. So etwas hatte ich noch nie gesehen!
Wir erreichten die Treppe. Es kam uns ein Geruch von indisch angerichteten Speisen entgegen, aber auch von Moder.
Mir wurde etwas mulmig zumute.
Als wir die Treppe hinunter gingen, war Sameer plötzlich verschwunden. Er tauchte kurz darauf wieder auf mit großen Tüten voller Früchte. Diese reichte er den Menschen, die am Rande auf den Treppenstufen kauerten und dankbar die Geschenke entgegennahmen.
Die Gruppenleiterin unterhielt sich mit einem Verkäufer an dessen CD-Elektronik- Stand.
Dann gingen wir weiter.
Überall gab es Stände und Geschäfte, in denen die Menschen ihre Waren feilboten:
Nahrungsmittel, Küchengeräte, bunte Textilien, Schmuck, Mobiliar…
Ein Stand blieb mir besonders lebhaft in Erinnerung: es hingen und lagen überall große rohe Fleischstücke herum, über einer kleinen offenen Feuerstelle wurde gebraten, einige Ziegen warteten angebunden auf Nahrung und – alles war voller Fliegen…
Nun, schon die Treppe herunter begleitete uns ein ‚Sadhu‘, der uns seine Schiwasymbole aus Holz und Messing anpries. ‚Nein, bitte, lassen Sie uns!‘ riefen wir ihm zu in der Hoffnung, er würde bald davonlassen, uns zu folgen!
Eine Frau, einen Rollstuhl schiebend, kam uns entgegen. Darin saß ein junger Mensch, spastisch gelähmt, mit seinen Armen herumfuchtelnd.
Und links und rechts am Straßenrand saßen Bettler, viele, überaus viele. Und es gab auch noch mehr behinderte Menschen, die von ihren Angehörigen begleitet, sich hier bewegten.
Ich verstand: hier konnte ich nur als ‚Meisterin‘ durchgehen. Sonst würden mich die Eindrücke aufzehren. Ich richtete mich auf, nahm mehrere tiefe Atemzüge und schritt voran.
Mein Fokus war direkt in meinem Herzen und ich schaute aus meinen Augen mit meiner Seelenpräsenz zusammen. Das war wunderbar, denn immer wieder trafen sie sich mit Augenpaaren von Passanten, von Frauen und Kindern. Und jedes Mal war es ein Gruß von Herz zu Herz, von Seele zu Seele, voller Freundlichkeit und einem Erkennen…
Nun, diese Strasse zog sich gerade und lange hin.
Als Schmuck hingen über ihr lange Lichterketten. Das Fest ‚Diwali‘ stand aus, das Lichterfest, das jährlich Anfang November in ganz Indien gefeiert wird zu eheren der Göttin Lakshmi, der Göttin für Fülle und Wohlstand.
Und links und rechts am Straßenrand lagen die Bettler.
Manche krochen auf dem Bauch dort über die Straße, zwei männliche Gestalten hatten ganz ähnlich verdrehte Gliedmaßen, einer ohne Füße lag quer und völlig eingestaubt zwischen anderen, die um Almosen baten.
Zum Glück erfuhr ich immer wieder diesen Blickkontakt, der so liebevoll war.
Gegen Ende, nach fast einer Stunde des Weges hielt ich es fast nicht mehr aus.
Doch bald saßen wir wieder in unserem Auto und ich stieß einen lauten langen Schrei aus.
‚Oh, Sameer, ich nehme dich gleich nachher in den Arm‘, versuchte die Gruppenleiterin unseren Touristenführer zu beruhigen.
‚Ach, macht euch nichts draus, das ist meine Art Mantras zu singen‘, antwortete ich lachend.
Es war eine so extreme Erfahrung für mich, als wir dort durch diese Strasse gingen. Ich war so betroffen! Diese Menschen, wie musste ihr Leben aussehen, im Alltag, wer hilft ihnen bei ihren Toilettengängen, wer wusch sie, wer half ihnen beim Ankleiden?
Ich konnte mir das kaum vorstellen.
Es gab ja in Indien kein soziales Netz wie zum Beispiel in Deutschland, das solche Menschen auffängt. Sie sind viel mehr sich selbst überlassen.
Nun, am Abend lief ich beunruhigt in meinem Hotelzimmer auf und ab.
Ich fühlte ein solches Mitleid! Wie sollte ich so bestürzt einschlafen können?
So setzte ich mich hin, atmete, stand wieder auf, atmete tief, lief im Zimmer herum, atmend…
Ich empfand, dass ich diesen Menschen nichts zu geben hätte, solange sie mir leidtaten, solange ich sie bemitleidete.
Das würde nur ihr Leid verstärken.
Ich versuchte mich zu beruhigen und mir kam der Gedanke: ‚Ach, vielleicht sind es junge Seelen, die sich durch den engen Bodenkontakt zunächst einmal erden wollen.‘
‚Lieber Gott‘, sprach ich, ‚dann mach wenigstens, dass ihr Leben nur kurz ist…‘
‚Oh, welche Arroganz von mir!‘- dachte ich. Was weiß ich denn darüber, ob ihre Seelen nicht genau diese Erfahrungen machen wollen.
Ich prüfte immer wieder in meinem System, wie die Botschaft aussah, die von mir ausging zu den Bettlern. Und immer wieder stieß ich auf Reste von Mitleid.
Damit machte ich sie doch nur klein, setzte sie herab…
So liess ich mich immer tiefer sinken, bis ich mich plötzlich an einem Nullpunkt befand. Da war nur noch Leere, alles neutral, nichts mehr, was aufrieb, beurteilte, zurechtwies.
Und dort, in dieser Stille erreichte mich Gott, das Nichts, das gleichzeitig alles ist und LIEBE.
Ich atmete und erwachte aus meinem Traum.
In dieser Liebe konnte ich zu diesen Menschen schauen mit offenen Augen und geöffnetem Herzen und ihnen mitteilen, dass ’sie auch Gott sind‘, dass sie aus ihrer Essenz in Freiheit alles sein und werden können, was sie wählen, für immer.
Vielleicht nicht in diesem Leben, aber sie würden sich nun mit ihrer Seele zusammen entscheiden können, was sie leben, wer sie sein wollen.
Und das konnte ich wahrhaftig und frei mit Ihnen teilen, weil wir als Menschen an dieser Stelle gleich sind.
Ich strahlte ihnen aus meinem Raum entgegen und konnte diese Energie der Liebe im Überschwang verströmen zu ihnen und… zu mir.
Ja, dieses Erkennen würde ich in Zukunft auch für mich selbst anwenden können, wann immer ich mich zu Boden geschlagen, als Opfer fühlen würde. In dieser Tiefe würde ich mich immer wieder in meiner Souveränität aufrichten und mich neu erfinden können.
In dieser Nacht schlief ich – im einfachsten Hotelzimmer der ganzen Reise auf der unbequemsten Matratze zwölf Stunden in einem Stück…
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